Landrat Udo Recktenwald: 100 Jahre Saargebiet - 185 Jahre Landkreis St. Wendel, Teil 1

von Bernhard W. Planz1


Während der Novemberrevolution 1918 wurden im Landkreis St. Wendel offenbar lediglich die Arbeiter der Eisenbahnwerkstätte aktiv. Zusammen mit Soldaten des Bezirkskommandos, der organisierten Bauernschaft und wohl auch der Gewerkschaften und Parteien bildeten sie den „Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat“. Der Rat tagte nur einmal, und zwar unter Vorsitz des Landrates. Versuche von Mitgliedern des Saarbrücker Rates, sich bei der so genannten „Sonntagsvollversammlung“ des Landrates in Marpingen Gehör zu verschaffen, blieben Episode. Selbst der Aufruf des Stadtbürgermeisters zur Bildung einer Bürgerwehr, die für „Sicherheit, Ruhe und Ordnung“ sorgen sollte, fand kein Gehör. Mit dem Einmarsch der französischen Besatzungstruppen Anfang Dezember 1918 endete die Tätigkeit des Rates.

Die französische Besatzung zeigte auch in St. Wendel verschiedene Gesichter. Zum einen milderten die Aufhebung der Lebensmittelblockade und die Zuweisung von Fleisch und Mehl die latente Hungersnot, die besonders im städtischen Bereich herrschte. Zum andern aber mussten die Besatzungssoldaten untergebracht und versorgt werden. Auch die Bewegungs-, Presse- und Meinungsfreiheit blieb - wie dies bereits im Krieg der Fall gewesen war - eingeschränkt. So erschien das „St. Wendeler Volksblatt“ am 7. Dezember 1918 erstmals mit geweißten Flächen. Die Reaktionen der Bevölkerung und der Mitglieder der Verwaltung von Stadt und Landkreis auf den Einmarsch der französischen Besatzungstruppen waren durchaus unterschiedlich, sie reichten von Anpassung bis zu hinhaltender Renitenz.


Zwei Drittel des Gebietes verloren2

Eine zentrale Aufgabe der Landkreisverwaltung, zunächst unter dem bisherigen Landrat Dr. Hermann Sommer, bestand im Jahre 1919 in der durch die Bestimmungen des Versailler Vertrags vorgegebenen Teilung des Landkreises. Diese erfolgte (entsprechend Abschnitt IV, Artikel 48 des Vertrags) zwischen Furschweiler und Roschberg, St. Wendel und Leitersweiler. Etwa Zweidrittel des bisherigen, weit ins nordpfälzische Bergland hineinreichenden Landkreises mit den Bürgermeistereien Baumholder, Burglichtenberg, Grumbach, Sien und Teilen der bisherigen Bürgermeisterei Oberkirchen wurden nicht dem neu geschaffenen Saargebiet angegliedert und gingen damit dem Landkreis verloren. Es verblieben 26 Gemeinden mit etwa der Hälfte der bisherigen Einwohnerzahl. Von der französischen Besatzungsmacht initiierte Befragungen im Bereich der Bürgermeisterei Oberkirchen hatten zwar klare Mehrheiten für einen Verbleib beim Landkreis erbracht – man befürchtete in diesen Ortschaften, bei einer Nicht-Angliederung an das Saargebiet die Arbeitsplätze auf den Saargruben zu verlieren, eine Angliederung erfolgte aber nicht - offenbar auf Druck der Amerikaner, die das Saargebiet flächen- und einwohnermäßig so klein wie möglich belassen wollten. Eine entsprechende Befragung von Gemeindevertretern in der bayrisch-pfälzischen Bürgermeisterei Niederkirchen fiel gegen eine Angliederung an das Saargebiet aus.

Der Landkreis bestand in der Folge aus den Bürgermeistereien Alsweiler (mit den Ortschaften Alsweiler, Bliesen, Gronig, Güdesweiler, Marpingen, Oberthal, Urexweiler und Winterbach), Namborn (mit den Ortschaften Baltersweiler, Eisweiler, Furschweiler, Heisterberg, Hofeld-Mauschbach, Namborn, Pinsweiler, Roschberg und Urweiler), St. Wendel-Land (mit den Ortschaften Dörrenbach, Mainzweiler, Niederlinxweiler, Oberlinxweiler, Remmesweiler, Steinbach, Werschweiler und dem Hofgut Wetschhausen) und der Stadt St. Wendel selbst. Er hatte 1920 etwa 29.000 Einwohner, am Ende der Völkerbundszeit war die Einwohnerzahl auf etwa 35.000 gestiegen. Die Befürchtung der Verwaltung, der verkleinerte Landkreis würde aufgelöst und dem Landkreis Ottweiler angeschlossen, erwies sich – der bisherige Landrat war von der französischen Besatzungsmacht abgelöst worden – mit der Ernennung des Ersten Kreisdeputierten Alfred Friedrich zum neuen Landrat als unbegründet. Friedrich amtierte bis 1929. Zu seinem Nachfolger bestellte die Regierungskommission den Juristen Dr. Franz Schmitt.

Konfessionell war der verkleinerte Landkreis sehr viel stärker als sein „Vorgänger“ katholisch geprägt, stärker auch als das Saargebiet insgesamt: 1932 gehörten 84,8 % der Bevölkerung der katholischen Konfession an, 14,7 % waren Protestanten, 0,37 % waren mosaischen Bekenntnisses. Ihr sicherlich – auch über die Stadtgrenzen hinaus - bekanntester Vertreter war Eugen Berl, Inhaber eines Modehauses in der Schlossstraße und in vielfältiger Weise im öffentlichen Leben der Stadt tätig. Bilder zeigen ihn mit seiner Familie und Angestellten in den - scheinbar -noch friedvollen und toleranten Jahren vor Beginn der NS-Zeit. Zu den übrigen Konfessionen: Die ganz überwiegende Anzahl der Protestanten lebte in der Bürgermeisterei St. Wendel-Land (1935 waren hier 65,4 % der Bevölkerung evangelischer Konfession), wobei die Ortschaften Niederlinxweiler, Oberlinxweiler, und insbesondere Werschweiler, Dörrenbach, das Hofgut Wetschhausen und Steinbach herausragten. Dagegen waren die Bürgermeistereien Alsweiler mit 99,4 % und Namborn mit 98 % fast rein katholisch. Selbst in der Stadt St. Wendel betrug der Anteil der katholischen Bevölkerung 87,5 %.


Landwirte, Bergarbeiter, Eisenbahner3

Im Landkreis spielte nach wie vor das Bergmannsbauerntum eine wichtige Rolle. Fast 3.000 Männer arbeiteten Anfang der 1920-er Jahre hauptberuflich in den Saargruben, außerdem nicht wenige im Neunkircher Eisenwerk, im Nebenberuf betrieben sie eine Kleinlandwirtschaft. Weiterhin war auch das Eisenbahnausbesserungswerk in St. Wendel ein wichtiger Arbeitgeber, mit Abstand gefolgt von den drei Tabakfabriken und den Ziegeleien der Stadt. Die Zollgrenze zum Deutschen Reich, wenn auch durch Sonderregelungen des „kleinen Grenzverkehrs“ (und durch den nicht unerheblichen Schmuggel) gemildert, stellte ein beträchtliches Verkehrs- und Handelshemmnis dar.

Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg waren im Kreisgebiet mit erheblichen Infrastrukturmaßnahmen verbunden. Nachdem die Stadt St. Wendel bereits seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts begonnen hatte, eine öffentliche Wasser- und Gasversorgung einzurichten, folgten die Gemeinden des Kreisgebiets im Verlauf der 1920-er Jahre. Ebenso wurde der Anschluss an ein öffentliches Elektrizitätsnetz vorgenommen. Während der Ausbau zahlreicher Gemeindeverbindungswege durch den Kreis voranschritt, konnten Projekte zur Erweiterung des Eisenbahnnetzes, von St. Wendel ins Ostertal und von Tholey im Kreis Ottweiler über Marpingen nach Wemmetsweiler im Kreis Ottweiler, nicht verwirklicht werden. Buslinien, die eingerichtet wurden, und der verstärkte Einsatz von LKWs entwickelten sich bereits zur Konkurrenz für die Eisenbahn. Wenig Veränderungen gab es im Bereich der Landwirtschaft, deren Maschinisierungsgrad noch immer gering war.

Wie im gesamten Saargebiet war die Nachkriegsnot im neuen Landkreis St. Wendel groß. Auch in den folgenden Jahren blieb der Ernährungszustand von Teilen der Bevölkerung, zumal in der Stadt St. Wendel, problematisch, wie sich bei Gesundheitsuntersuchungen von Volksschülern zeigte. Erneut brachte ab 1930 die durch den Einbruch der Weltwirtschaftskrise hervorgerufene Arbeitslosigkeit Hunger und Not mit sich. Schon im Vorfeld und verstärkt seit 1931 versuchten Landkreis und Kreisstadt durch Notstandsarbeiten wie Wegebau, Instandsetzung von Kreisgebäuden und Bliesregulierung, Anlegung des Stadtparks, durch Zuschüsse zur Invaliden- und Angestelltenversicherung und durch günstige Kredite und Zinszuschüsse für Bauherren der Not entgegenzuwirken. Am 6. Februar 1930 wandte sich der Stadtrat mit einer Entschließung hinsichtlich der „produktiven Erwerbslosenbeschäftigung“ an die Regierungskommission. Eine Form der Selbsthilfe stellten die so genannten freiwilligen Arbeitskameradschaften dar, die für ein Taschengeld aus der Hand der Sozialen Nothilfe beziehungsweise des Landkreises Infrastrukturmaßnahmen durchführten.


Einmalige Blüte des Vereinslebens4

Das kulturelle Leben in der Stadt St. Wendel und in den Dörfern war in erster Linie durch ein breites Vereinsleben geprägt, das vor und nach dem Ersten Weltkrieg eine Blüte erlebte wie nie zuvor und nie danach. Die Zahl der Sportvereine, besonders der Fußballvereine, stieg erheblich an. Sportfeste wurden Teil des jährlichen Festreigens. Neben dem Fußball waren in der Stadt St. Wendel der Handballsport, das Turnen, der Radsport, das Wandern, selbst der Tennissport mit Vereinen vertreten. Gelegentlich fanden Motorrad- und Autorennen statt. 1926/27 wurde das heute noch existierende Freibad an der Missionshausstraße gebaut. Wie viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens waren aber auch die Sportvereine zum Teil weltanschaulich aufgegliedert, wobei die katholische DJK (Deutsche Jugendkraft) von besonderer Bedeutung war.

Verstärkt wurde St. Wendel von Wanderbühnen besucht. Es entstand eine Theatergemeinschaft, die Abonnenten für Theateraufführungen warb und verbilligte Karten für den Theaterbesuch in Saarbrücken abgab. In St. Wendel wie in vielen Ortschaften spielten die Gesangvereine eine herausragende Rolle. Kirchenchöre und Männergesangvereine waren häufig sogar die ältesten Vereine der Ortschaften.

Eine ganz neue Attraktion stellten die Kinos dar, in St. Wendel waren es in den 20er und 30 er Jahren zeitweise zwei. Im Jahr 1930 wurde im Central-Theater der erste Tonfilm vorgeführt, schon zuvor, ab 1923/24, war auch das Radiohören möglich – zunächst noch ein Privileg weniger. Wichtigste Medien blieben die Zeitungen. Wie im übrigen Saargebiet wurden die rechts-liberale Saarbrücker Zeitung, die Saarbrücker Landeszeitung, das Zentralorgan der katholischen Zentrums-Partei (ab 1928 mit der St. Wendeler Zeitung als Kopfblatt für den Landkreis), die sozialdemokratische Volksstimme und die kommunistische Arbeiter-Zeitung gelesen. Ein Kopfblatt der Neunkircher Zeitung war das seit 1880 existierende katholische St. Wendeler Volksblatt. Die national-liberale Nahe- und Blies-Zeitung (unter diesem Namen seit 1861 bestehend) hatte Ende 1922 ihr Erscheinen eingestellt.

An weiterführenden Schulen bestanden im Landkreis das 1824 gegründete (Jungen-) Gymnasium und das 1899 gegründete Missionshausgymnasium. Als dritte höhere Schule wurde 1922 – in der Nachfolge einer höheren Töchterschule und eines Lehrerseminars – eine Landesstudienanstalt für Mädchen eingerichtet. Das Gymnasium wechselte 1928 in ein neues repräsentatives Schulgebäude in der Werschweilerstraße, die Landesstudienanstalt in das bisherige Gebäude des Gymnasiums in der Gymnasialstraße. Zwei Berufsschulen, am Ende der Völkerbundszeit auch eine höhere Handelsschule, ergänzten das Angebot der weiterführenden Schulen.

Höhepunkte der Feierkultur in St. Wendel, zum Teil mit überörtlicher Bedeutung, waren in den 1920-er und beginnenden 1930-er Jahren: eine Landwirtschaftsausstellung 1921, die „Heiligtumsfahrt“ 1924 zu den ausgestellten Reliquien des heiligen Wendelin, die Feierlichkeiten zum hundertjährigen Bestehen des Gymnasiums im gleichen Jahr, die erwähnte „Jahrtausendfeier“ der Zugehörigkeit des Rheinlandes zum Deutschen Reich 1925 (die auch in den übrigen Gemeinden mit Feierlichkeiten verbunden war) und die 600-Jahr-Feier der Stadt 1932. Die enge Einbindung in das kirchliche Leben zeigte sich augenfällig bei Großveranstaltungen. So sollen allein bei der erwähnten „Heiligtumsfahrt“ zwischen 220.000 und 250.000 Menschen nach St. Wendel gepilgert sein. Und fast alle katholischen Männervereine des Saargebietes waren vertreten, als 1930 auf dem damals zum Landkreis Ottweiler gehörigen Schaumberg – unter Teilnahme der Bischöfe von Trier und Speyer und von Vertretern der Regierungskommission – eine Kriegergedächtniskapelle mit Aussichtsturm eingeweiht wurde.  Zuvor und danach entstanden in zahlreichen Ortschaften „als Zeichen des Glaubens und der Vaterlandsliebe“ Denkmale, die an die Gefallenen des Ersten Weltkriegs erinnerten.  


Wahlen auf Kreisebene5

Aus den Wahlen zwischen 1919 und 1932 / 35 (nämlich zur Nationalversammlung, zur preußischen verfassunggebenden Landesversammlung, zum Landesrat, zum Kreistag und zu den Kommunalparlamenten) seien die Kreistagswahlen herausgegriffen, die den besten Überblick über die politische Stimmung dieser Jahre bieten.

Die Kreistagswahlen (wie auch die Wahlen auf Gemeindeebene) wurden 1920 und 1923 nach dem System des Kumulierens und Panaschierens durchgeführt, seit 1926 in der Form der heutigen Listenwahl. Wie im St. Wendeler Stadtrat und bei den Wahlen zum Landesrat dominierte während der gesamten Völkerbundszeit auf Kreisebene unangefochten die katholische Zentrumspartei, zum Teil – wie auf kommunaler Ebene - mit konkurrierenden Listen. Sie stellte, in der Höhe des Ergebnisses schwankend, stets die absolute Mehrheit der Mandatsträger. Die Sozialdemokratische Partei bewegte sich nach einem sehr guten Ergebnis 1920 in der Folge bei Ergebnissen um 10 %. Vergleichbare Ergebnisse, wenn auch gegen Ende der Völkerbundszeit schwächer werdend, erzielten Wirtschafts- und Bürgerlisten. Fast bedeutungslos waren die Liberalen. Die Kommunisten, erstmals 1929 im Kreistag vertreten, stellten zunächst einen, 1932 dann vier Vertreter und waren damit zweitstärkste Fraktion. Die Nationalsozialisten konnten 1932 – mit 4,9 % der Stimmen – einen von 23 Sitzen im Kreistag erringen. Die Ergebnisse in den Ortschaften des Kreises divergierten dabei allerdings erheblich. In kleineren katholischen Orten wie Heisterberg oder Pinsweiler wurde sogar keine einzige Stimme für die Nationalsozialisten abgegeben, auch in größeren Ortschaften wie Winterbach und Alsweiler war die NSDAP mit 0,4 bzw. 0,6 % der Stimmen noch völlig bedeutungslos. Grund für das Scheitern der NSDAP war die enge Bindung des katholischen Bevölkerungsteils an die Kirche (die bis 1933 den Nationalsozialismus scharf verurteilte), aber auch, und damit zusammenhängend, der Mangel an gesellschaftlich anerkanntem Personal. (Im evangelischen Dörrenbach konnte sie dagegen ihr kreisbestes Ergebnis mit 48,4 % der Stimmen erringen.)


Schlagzeilen gegen Hitler

Die Machtübernahme Hitlers und die beginnende Unterdrückung politischer Gegner wurden 1933 im St. Wendeler Volksblatt, das zusammen mit der St. Wendeler Zeitung das Sprachrohr der Zentrums-Partei und des politischen Katholizismus bildete, abgelehnt, zum Teil einer scharfen Kritik unterzogen. Dabei richtete sich die Kritik zunächst stärker gegen das Kabinett insgesamt als gegen die Person Hitler. Typisch für die ersten Tage und Wochen sind die folgenden Titel:

„Reichskanzler Adolf Hitler. Ein gefährliches Experiment – Das Zentrum nicht beteiligt – Wahrscheinlich wird es eine Bewährungsfrist geben“ (31. Januar);
„Unter fadenscheiniger Begründung Auflösung des Reichstags“ (2. Februar);
„Neuer Verfassungsbruch in Preußen? Landtagsauflösung unter fraglicher Begründung“ (4. Februar);
„Unheilvolle, katastrophale Anschauungen in gewissen maßgebenden Kreisen in Bezug auf das, was Recht und Verfassung ist“ (9. Februar);
„Mordterror gegen deutsche Katholiken“ (22. Februar).

Seit der Zustimmung der Zentrumsfraktion im Reichstag zum Ermächtigungsgesetz, dem Abschluss des Reichskonkordates und schließlich der Selbstauflösung des Zentrums wich die scharfe Kritik -  insbesondere im Blick auf den näher rückenden Abstimmungstermin – einer Hinnahme der neuen Verhältnisse. Kritik wurde meist nur noch in kirchenpolitischen Fragen geübt. Nach Auflösung des Saar-Zentrums im Oktober 1933 und dem Beitritt zur „Deutschen Front“ trugen die beiden (ehemaligen) Zentrums-Zeitungen den Untertitel „Organ der Deutschen Front“.

Gleichzeitig kam es jetzt auch in katholischen Ortschaften des Landkreises zur Gründung von NSDAP-Ortsgruppen, etwa in Urexweiler und Marpingen6. Wie sehr die NSDAP in der Kreisstadt selbst an Bedeutung gewann, wo sie bisher wie fast im gesamten Landkreis eine politische Randerscheinung gewesen war und im 23-köpfigen Stadtrat lediglich über zwei Mandate verfügte, zeigte sich etwa in der neuen Rolle des NSDAP-Stadtverordneten Tholey. Ihm, nicht einem Vertreter der (ehemaligen) Arbeitsgemeinschaft der beiden Zentrumslisten, oblag es, vor dem Stadtrat die Bildung einer Fraktion der „Deutschen Front“ bekanntzugeben. Die beiden sozialdemokratischen und zwei der drei kommunistischen Stadtverordneten lehnten eine Mitgliedschaft ab, ein kommunistischer Stadtverordneter erklärte seinen Beitritt7.  

Eine Fülle von Veranstaltungen und Aktionen der „Deutschen Front“ ergoss sich in den anderthalb Jahren vor der Volksabstimmung über den gesamten Landkreis, verbunden mit einem Klima von Ausgrenzung, Druck und Gewalt und Drohungen. Dabei überlagerte die nationale Frage alle anderen Fragen politischer oder gesellschaftlicher Art. Die Strategie der NS-Propaganda, die Entscheidung als von diesen Fragen völlig unabhängig erscheinen zu lassen, war erfolgreich. Als verhängnisvoll erwies sich zudem die in erster Linie aus kirchenpolitischen Gründen erfolgte Aufforderung der Bischöfe von Trier und Speyer an die saarländischen Katholiken zur Entscheidung für eine Rückgliederung ins Reich.

Die Abstimmung am 13. Januar 1935 fiel im Kreis St. Wendel noch eindeutiger aus als im übrigen Saargebiet, nämlich 5,2 % für den Status quo, 0,1 % für Frankreich und 94,7 % für eine Rückkehr zu Deutschland.


1 Der Artikel ist erstmals erschienen in: Die Nazis aus der Nähe. Im Mikrokosmos der Hitler-Diktatur – Eine Spurensuche im St. Wendeler Land, hrsg. von Klaus Brill, Bernhard W. Planz, Inge Plettenberg und Klaus Zimmer, Marpingen 2014, S. 54-69. Der vorliegende Abdruck ist eine gekürzte Fassung dieses Artikels.

2 Schäfer, Th. / Dilk, G.: Über das Wirken der Landräte des Kreises St. Wendel, S. 310 – 311; Sommer, H.: Bevor der Landkreis geteilt wurde; S. 127 – 133; Kretschmer, R.: Geschichte der Stadt St. Wendel, Bd. 1, S. 113; Kirsch, H.: Das mittlere Ostertal; Wagner, E.: Marpingen und der Kreis St. Wendel, S. 84 - 87.

3 Schäfer, Th. / Dilk, G.: Über das Wirken der Landräte des Kreises St. Wendel, S. 311 f., 314 f.; Kretschmer, R.: Geschichte der Stadt St. Wendel, Bd. 1, S. 268 f., 282- 285, 533, 566 – 576, 765 - 779, Bd. 2, S. 194 f., Bd. 3, S. 45 – 47.

4 Kretschmer, R.: Geschichte der Stadt St. Wendel, Bd. 2, S. 305 – 322, Bd. 3, S. 40 – 69.

5 Kretschmer, R.: Geschichte der Stadt St. Wendel, Bd. 3, S. 256 – 376; Schäfer, Th.: Die personelle Zusammensetzung des Kreistages, S. 328 – 337; Wagner, E.: Marpingen und der Kreis St. Wendel, S. 101 - 115; Zenner, M. Parteien und Politik im Saargebiet, S. 335 – 337.

6 Wagner, E.: Marpingen und der Kreis St. Wendel, S. 125.

7 WND / 1 Nr. 590. Stadtratsbeschlüsse 1922 – 1935, S. 342 f.

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